Nicht Gotha sondern Chemnitz: Die Wertmarken des Automatenrestaurants „Stadt Gotha“

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Foto: Bernd Thier

Korrektur zu Menzel Nr. 11712 und 11713 /

Beitrag von Bernd Thier

Die Zuweisung von Marken zu bestimmten Firmen, Hotels, Gaststätten oder Restaurants scheint vielfach durch die vorgefundenen Inschriften einfach und eindeutig zu sein, kann aber unter bestimmten Umständen auch schwierig oder fehlerhaft sein.

Im Zusammenhang mit der Bearbeitung eines umfangreichen bisher „unberührten“ Wertmarkenbestand der Schankwirtschaft „Neu-Holland“ aus Chemnitz in Sachsen aus den 1920er Jahren, der demnächst ausgiebig behandelt werden wird, trat ein einzelnes „Falschstück“ auf, das dort eigentlich nicht zu erwarten gewesen wäre.

Es handelt sich um eine Marke, die bereits von Peter Menzel (Deutschsprachige Notmünzen und Geldersatzmarken im In- und Ausland 1840 bis 2002, Erste digitale Ausgabe 2014 (Winfried Bogon Verlag für Digitale Publikationen Berlin 2014) beschrieben wurde:

11713.1) AUTOMAT STADT GOTHA / 10 Pf. NUR GÜLTIG IM:, Messing, rund, Dm 21,2 mm

Außerdem führte Menzel drei weitere Marken an:

11713.2) AUTOMAT STADT GOTHA / 10 Pf. NUR GÜLTIG IM:, Eisen, rund, Dm 21,2 mm
11713.3) AUTOMAT STADT GOTHA / 1- MARK, Messing, rund, Dm 22,5 mm
11712.1) AUTOMATEN-RESTAURANT STADT GOTHA / EINLAGE 50 PFG., Zink, 8-ecfkig, Dm 22,1 mm

Menzel weist alle vier Marken der Stadt Gotha in Thüringen zu, was bei der Aufschrift kaum verwundert. Allerdings bedeutet der Namen „Stadt Xyz“ nicht zwangsläufig, dass ein Hotel oder Restaurant auch in der „Stadt Xyz“ liegt, denn fremde Ortsnamen wurden damals gerne in anderen Städten für solche Gastronomiebetriebe verwendet.

Auch Menzel liefert hierfür Belege, wie Marken mit der Aufschrift „Stadt Gotha“ z.B. aus Altenburg in Thüringen (Menzel Nr. 477.1–2) und Dresden in Sachsen (Menzel Nr. 7131.1–2) belegen.

Wie gelangte aber nun eine Marke aus Gotha in das über 170 km entfernte Chemnitz und wurde dort versehentlich oder absichtlich als Wertmarke eingelöst, ohne dass dies einem Kellner oder Gastwirt sofort auffiel?

Mit Hilfe der schon ausführlich vorgestellten sächsischen Adressbuchdatenbank wurde daher in Chemnitz nach einem Automaten-Restaurant, das in Verbindung zur „Stadt Gotha“ stand, gesucht und tatsächlich gefunden. Aufgrund der Einträge in den Adressbüchern von 1903 bis 1943/1944 lässt sich folgendes rekonstruieren:

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Die Eigentümer und Bewohner des Hauses Johannisplatz 7 in Chemnitz / Ausschnitt aus dem Adressbuch der Stadt Chemnitz von 1911 (Quelle: http://adressbuecher.sachsendigital.de/startseite)

Im Jahr 1903 ließ der Immobilienkaufmann Theodor Dietzel (wohnhaft in Chemnitz, Stollbergerstraße 32) am Johannisplatz 7 ein neues vierstöckiges Wohn- und Geschäftshaus errichten, das als Gesamtgebäude unter dem Namen „Café Stadt Gotha“ firmierte. Im Erdgeschoß befand sich ab 1904 ein Automatenrestaurant, das zunächst R. Stolle betriebe. Ab 1905 wird als Betreiber Rudolf Gerecke benannt, seit Ende der 1910er Jahre firmierte der Betrieb nicht mehr als Automatenrestaurant sondern als Automantenschankwirtschaft. Den letzten Eintrag hierzu findet man im Adressbuch von 1922, ab 1923 wird lediglich noch das „Café Stadt Gotha“, später das Hotel „Stadt Gotha“ erwähnt.

Das Automatenrestaurant dürfte daher den gleichen Namen wie das Café besessen haben. Man kann davon ausgehen, dass die Automantenschankwirtschaft im Zusammenhang mit der galoppierenden Inflation 1922/1923 ihren Betrieb einstellen musste, da Münzgeld wertlos geworden war und nur noch mit riesigen Beträgen in täglich weniger Wert werdenden Geldscheinen bezahlt wurde. Die Umwechslung von Bargeld in Wertmarken für die Automaten war vermutlich für die sinnvolle Bewirtschaftung des Betriebes zu dieser Zeit unmöglich. Die Marken hatten bereits kurze Zeit nach dem Kauf theoretisch an Wert verloren, da sie bzw. das Essen und die Getränke im Automatenrestaurant durch die Inflation täglich teurer wurden, ihre Kaufkraft wäre aber gleich geblieben, wenn man sie später verwendet – d.h. in die Automaten gesteckt – hätte. Die Verluste für das Restaurant wären innerhalb weniger Tage enorm gewesen.

Demnach stammt diese Marke, und wohl auch die anderen drei von Menzel beschriebenen, nicht aus Gotha, sondern aus Chemnitz. Hergestellt wurden sie vermutlich zur Eröffnung des Restaurants um Jahre 1904, eine spätere Anschaffung ist jedoch nicht ausgeschlossen. Ein Exemplar gelangte dann – irrtümlich oder mit Absicht – in den Bestand der weniger als 2 km entfernten Schankwirtschaft Neu-Holland in der Fürstenstraße 64 und verblieb dort – glücklicherweise – über 80 Jahre am „falschen“ Ort.

Der Fund dieser Marke in dem noch geschlossenen Komplex zeigt daher eindrucksvoll wie wichtig es ist, unberührte neue „Markenfunde“ erst wissenschaftlich zu erfassen und zu erschließen, bevor sie von Sammlern oder Händlers zerstreut werden, ohne das wichtige Informationen zuvor erfasst und ausgewertet wurden. Wäre die Marke – ohne Fundzusammenhang und einen Hinweis auf die Stadt Chemnitz – in den Handel gekommen, wäre wohl für immer die falsche Zuordnung nicht erkannt und korrigiert worden.

Quellen: http://adressbuecher.sachsendigital.de/startseite

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5. März 2016

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